Das Frankfurt-Dreieck ist eine Erweiterung und Fortschreibung des in der Dagstuhl-Erklärung enthaltenen Dagstuhl-Dreiecks und richtet sich in Ergänzung dazu nun in erster Linie an Forscher*innen und andere Personen, die sich primär reflexiv und theoretisch – mit Bildung im Kontext des digitalen Wandels beschäftigen. Das Papier will die aus verschiedenen Disziplinen an die Gruppe der Autorinnen und Autoren herangetragenen konzeptionellen Lücken beispielsweise zur Gestaltung von Informatiksystemen oder zur Einordnung und Rolle des Individuums als handelndes und medial adressiertes Subjekt schließen. Entsprechend gelten die politischen Forderungen der Dagstuhl-Erklärung (2016) weiterhin, werden konzeptionell ergänzt und auf außerschulische Bildungskontexte erweitert.
Die Funktion dieses Modells besteht darin, einen überfachlichen Orientierungs- und Reflexionsrahmen für Bildungsprozesse im digitalen Wandel bereitzustellen und möglichst alle relevanten Perspektiven daran beteiligter Disziplinen einzubeziehen. Das gemeinsam entwickelte Modell – im Weiteren bezeichnet als Frankfurt-Dreieck, benannt nach dem Ort seiner Entstehung in zwei Expert*innen-Workshops 2017 und 2018 in Frankfurt am Main – basiert auf dem in der sogenannten Dagstuhl-Erklärung enthaltenen Dagstuhl-Dreieck, das 2016 unter Beteiligung von Akteur*innen aus Informatik, Informatikdidaktik, Medienpädagogik, Schulpraxis, Wirtschaft und Bildungspolitik in einem mehrtägigen Workshop auf Schloss Dagstuhl erarbeitet und von einer breiten Öffentlichkeit – entsprechend seiner Intention – insbesondere von Praktiker*innen und Politiker*innen – wahrgenommen wurde. Ziel ist es vielmehr, aus den disziplinären Perspektiven von Informatik, Informatikdidaktik, Medienpädagogik und Medienwissenschaft die Phänomene einer digitalen Welt und die daraus resultierenden Erfordernisse für Bildungsprozesse zu beschreiben und dadurch eine gemeinsame Reflexionsbasis zu entwickeln sowie darauf aufbauend – in künftigen Schritten – die notwendigen Kompetenzen für Partizipation in einer digital geprägten Welt zu definieren.
Eine Herausforderung im Diskussionsprozess der Autor*innengruppe war, dass es zu wesentlichen Kernbegriffen bislang kein etabliertes Begriffsverständnis gab – schon gar kein zwischen den beteiligten Disziplinen abgestimmtes. So wird beispielsweise „digitale Bildung“ häufig als Schlagwort verwendet (mal mit einem auf das Lehren und Lernen mit digitalen Mitteln eingeschränkten Bildungsverständnis, mal einschließlich informatischer Grundlagen gedacht usw.). Das Adjektiv „digital“ wird in der öffentlichen Diskussion und Berichterstattung oft als ein Synonym für „neuartig“ oder „modern“ verwendet. Dabei beschreibt es ursprünglich die Repräsentation von Daten und indirekt auch Information in einer Weise, die die automatische Verarbeitung mittels Computern ermöglicht, und „Digitalisierung“ damit die Umwandlung analoger in diskrete Werte, was heute im Wesentlichen durch binäre Signale realisiert wird. So ist Digitalisierung eines der drei Grundprinzipien der Informatik neben Automatisierung und Vernetzung, wird aber oft stellvertretend für diese genannt. Mit der Digitalisierung wurde die Voraussetzung für eine universelle Kompatibilität von Daten und Informationen geschaffen und zugleich die Bedingungen für die Integration bislang getrennter Praktiken, sozialer Strukturen und Technologien, was einen nachhaltigen Einfluss auf die tradierten räumlichen und temporären Unterscheidungen sowie soziale Ein- und Ausschließungen hat. Heute wird der Begriff der Digitalisierung in politischen und sozialen Kontexten vor allem zur Beschreibung von aktuellen informatisch und technisch induzierten gesellschaftlichen Transformationsprozessen genutzt.
Wir gehen davon aus, dass die Digitalisierung in den heutigen Gesellschaften die Kultur, die Infrastruktur und entsprechend die weitere Technologieentwicklung wesentlich mitprägt und sprechen daher vom digitalen Wandel. Die Teilhabe an politischen, kulturellen und ökonomischen Prozessen innerhalb der Gesellschaft setzt Fähigkeiten im Umgang mit und zur Analyse, Reflexion und Gestaltung von digitalen Artefakten voraus. Erforderlich hierfür ist die Kenntnis der informatischen Grundlagen sowie der medienwissenschaftlichen und erziehungswissenschaftlichen Zugänge und Diskurse.
Analog zum Dagstuhl-Dreieck werden im Modell drei Perspektiven ausdifferenziert, die Bildung für und über den digitalen Wandel aufgreifen muss. Diese werden im weiterentwickelten Modell bezeichnet als technologisch-mediale Perspektive, gesellschaftlich-kulturelle Perspektive und Interaktionsperspektive. Diesen Perspektiven sind jeweils die Prozesse Analyse, Reflexion und Gestaltung zugeordnet, die Lernende mit dem Ziel der Befähigung zur Partizipation an der durch Digitalisierung geprägten Welt und am digitalen Wandel jeweils durchlaufen sollen. Zugleich kann eine umfassende Analyse, Reflexion und Gestaltung des digitalen Wandels nur gelingen, wenn alle drei Perspektiven systematisch und sich wiederholend eingenommen werden.
Die Mitte des Modells bietet Raum für den jeweiligen Betrachtungsgegenstand der durch Digitalisierung geprägten Welt, also digitale Artefakte wie beispielsweise autonome Fahrzeuge, soziale Netzwerke, Hate Speech und Multitasking und damit in Zusammenhang stehende Phänomene, der dann aus Sicht der drei zuvor benannten Perspektiven und den damit verbundenen Prozessen aufgearbeitet werden soll.
Auf Basis dieses Modells sollen künftig Konkretisierungen im Hinblick auf Handlungsfelder wie Schule, außerschulische Bildungskontexte wie Kinder- und Jugendbildung, Kulturelle Bildung und Erwachsenenbildung, Berufsbildung und Hochschule, Lehrerinnen- und Lehrerbildung sowie Aus- und Fortbildung von pädagogischen Fachkräften entwickelt werden. Diese können dann in weiteren Schritten im Hinblick auf Kompetenzmodelle und fachdidaktischen- sowie mediendidaktische Fragen und insbesondere die Weiterentwicklung von vorhandenen (Unterrichts-) Konzepten und Empfehlungen der Fachgesellschaften (GI 2008; LKM 2008; GfM 2013; LKM 2015; GI 2016; GfM 2016; DGfE 2017; GMK 2017; GfM 2016; GI 2019 usw.) ausgearbeitet werden.
Technologisch-mediale Perspektive
Ziele der Betrachtung aus einer technologisch-medialen Perspektive sind das Hinterfragen und Reflektieren der den Phänomenen und Artefakten der durch Digitalisierung geprägten Welt zugrundeliegenden Strukturen und deren Funktionsweisen sowie eine Befähigung zur (Mit-) Gestaltung solcher Artefakte und Phänomene. Dazu erfolgt eine Auseinandersetzung mit konzeptionellen Fragen, insbesondere mit informatischen und medialen Funktionsprinzipien digitaler Systeme, mit den zu deren Erstellung verwendeten informatischen und medialen Strukturierungs- und Gestaltungsmitteln und -formen, den sich durch sie ergebenden technischen Analyse- und Verarbeitungsmöglichkeiten sowie den an der „Oberfläche“ meist nicht sichtbaren kulturellen, politischen oder persönlichen Einschreibungen.
In dieser Perspektive werden damit zwei Aspekte verknüpft, die untrennbar miteinander verbunden sind:
- Unter Anwendung langlebiger Informatik-Konzepte werden aus informatischer Sicht die Funktionsweise von digitalen Artefakten, die die digitale vernetzte Welt ausmachen, sowie damit in Zusammenhang stehenden Phänomenen hinterfragt und bewertet. Zugrundeliegende Funktionsprinzipien und Strukturen der digitalen Artefakte werden analysiert und aufgedeckt und damit Möglichkeiten zur Gestaltung und Erweiterung der Funktion digitaler Systeme unter Berücksichtigung von informatischen Problemlösestrategien und -methoden einerseits, aber auch zu einem reflektierten Umgang mit digitalen Systemen andererseits angelegt. Die Basis hierfür bilden theoretische und praktische Grundlagen der Informatik insbesondere in den Bereichen Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung und deren Anwendung auf aktuelle und gesellschaftlich relevante Themen (wie z. B. Big Data oder Künstliche Intelligenz) sowie Aussagen zu den praktischen und theoretischen Grenzen von Berechenbarkeit bzw. Automatisierung. Hinzu kommen Konzepte zur Kommunikation informatischer Systeme untereinander (z. B. Netzwerke, Protokolle, Verschlüsselung), Priorisierungen darin (insbes. Netzneutralität) sowie systematische Vorgehensmodelle zur Erstellung von digitalen Artefakten und
- Durch informatische Modellierung von Ausschnitten der Welt mit entsprechenden Mitteln und Werkzeugen sowie geprägt durch kulturelle Einschreibungen und die persönliche Perspektive von Entwickler*innen (z. B. Auswahl von Trainingsdaten für KI, normative Algorithmen ohne Legitimierung von Entwicklern), entstehen digitale Artefakte. Diese beeinflussen als soziotechnische Informatiksysteme mit charakteristischen Eigenschaften, Ästhetiken, Formen und Grenzen die menschliche Wahrnehmung und bedürfen daher auch einer Auseinandersetzung aus medialer Sicht. Von den Entwickler*innen und/oder den Auftraggeber*innen wird explizit und mitunter auch interessengeleitet, unreflektiert oder aufgrund kultureller Konventionen festgelegt, was sichtbar oder wahrnehmbar ist, wie auch, was in den Hintergrund tritt. Hierdurch wird die mit solchen Systemen mögliche Interaktion und insbesondere das Repertoire kultureller Ausdrucks- und Kommunikationsmöglichkeiten bestimmt. Mit diesen charakteristischen Prägungen schreibt sich die Technologie mittels ihrer Artefakte, aber auch deren Geschichte und Genese, in die durch sie ermöglichten kulturellen und sozialen Formen ein: In ihnen sind Sozialstrukturen angelegt, in ihnen ist festgeschrieben, was in welcher Weise archiviert, was vergessen und ignoriert wird sowie was historisches Gewicht verliehen
Darüber hinaus legen verwendete Technologien erforderliche Kompetenzen für ihre Nutzung fest. Umgekehrt kann die Reflexion und Kenntnis von solchen Determinationsverhältnissen in die Konstruktion von digitalen Artefakten einfließen, was zu einem dynamischen souveränen Umgang mit Technologien befähigen würde. Es ist daher unerlässlich, die Strukturen, Funktionen und Funktionsweisen von digitalen (Medien-) Systemen aus informatischer und medialer Sicht analysieren, reflektieren und (mit-)gestalten und diese Sichten aufeinander beziehen zu können. Solcherart fundiertes und verknüpftes Informatik- und Medienwissen erklärt technologische und mediale Phänomene mit langlebigen Konzepten und schafft zusammen mit der Entwicklung grundlegender Problemlösestrategien die Basis für die reflektierte Teilhabe an einer digital geprägten Welt.
Gesellschaftlich-kulturelle Perspektive
Der digitale Wandel prägt die sozialen Kommunikations- und Interaktionsbedingungen sowie die politische Organisation von Gesellschaften. Er bildet dabei nicht zuletzt auch einen kulturellen Möglichkeitsraum, der von Gesellschaften genutzt und gestaltet werden kann. Dasselbe gilt auch für die ökonomische Reproduktion von Gesellschaften. Es werden beispielsweise neue Arbeitsbedingungen, Produktionsmethoden und Austauschbedingungen entwickelt. Dadurch verändern sich die gesellschaftlichen Rollen von Akteur*innen sowie die Dynamiken gesellschaftlicher Entwicklung. Gesellschaften entwerfen Normen und Regeln für die Verwendung und den Einsatz von Technologien und Techniken, die die konkrete Bedeutung und den Einfluss von digitaler Technik strukturieren. So werden in gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen die Bedingungen von Privatheit und Öffentlichkeit festgelegt, es werden Interaktionsmöglichkeiten geschaffen oder aber begrenzt und es wird der Zugang zu technischen Systemen geregelt. Gesellschaften prägen Bildungsinstitutionen und regulieren durch Bildungsangebote für den Erwerb entsprechender Kompetenzen das Verständnis für und die gesellschaftliche Nutzung von digitalen Technologien und Techniken. Der Grad der gesellschaftlichen Durchdringung mit Technologien und auch deren soziale Rolle wird daher wesentlich vom Bildungssystem bestimmt. Dabei bestimmt der Grad der Enkulturation digitaler Technologien und Techniken auch die Rolle einer digitalen Kultur in der Gesellschaft und deren Verhältnis zu analogen kulturellen Artefakten.
Aus gesellschaftlich-kultureller Perspektive werden deshalb Wechselwirkungen zwischen Individuen, Gesellschaft und digitalen Systemen vor dem Hintergrund der Medialisierung und des digitalen Wandels analysiert und reflektiert. Im Vordergrund stehen die Veränderungen, denen Individuen und Gesellschaft unterworfen werden, sowie eine Analyse und Bewertung von Chancen und Problemen, die sich durch den digitalen Wandel ergeben. Das betrifft beispielsweise sich durch digitalisierungsbezogene Kompetenzen eröffnende Möglichkeiten für wirtschaftliches, ökologisches, nachhaltiges und politisches Handeln und die damit einhergehende Verantwortung einerseits sowie die sich durch Nutzung digitaler Systeme ergebenden Datenspuren der*des Einzelnen im Netz und die damit verbundenen Profilbildungen für kommerzielle oder ideologische Zwecke andererseits. Zudem werden unter den Bedingungen digitaler Infrastrukturen das Erkennen und die Bewertung medialer Einflüsse sowie die aktive Teilhabe an gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen voraussetzungsreicher. Sie erfordern Hintergrundwissen und spezifische Kompetenzen, wie beispielsweise das Beurteilen von Information oder die Entwicklung eigener Standpunkte. Hierbei lassen sich widersprüchliche Tendenzen feststellen: die erhöhten Partizipationsmöglichkeiten steigern den potentiellen Einfluss von Individuen, wohingegen die wachsende Komplexität einer digital gewandelten/beeinflussten Kultur und die Geschlossenheit autonomer und/oder selbstlernender Systeme den individuellen und gesellschaftlichen Ein- und Zugriff wiederum erschweren. Dadurch stellt sich die Frage nach einer Mitgestaltung von „digitaler“ Kultur und ihrer Enkulturation grundlegend neu. Zugleich können in der digitalen Welt mittels digitaler Technologien (neue) soziale Ungleichheiten produziert beziehungsweise verfestigt werden, so dass auch Fragen sozialer Gerechtigkeit und sozialen Ausgleichs neu reflektiert werden müssen.
Ein weiterer Aspekt ist die historische und die damit einhergehende politische Entwicklung von Informations- und Kommunikationstechniken. Dazu muss analysiert werden, welche Normen und Regeln in mediengestützten sozialen Prozessen wirksam sind, wie und von wem sie ausgestaltet werden und welche Machtstrukturen hier eingeschrieben sind. Konkret sind beispielsweise Fragen der Netzneutralität in den Blick zu nehmen – auch im Hinblick der Entstehung des Internets und seiner Dynamiken vor dem Hintergrund historischer Prozesse. Dazu gehören auch ökonomische Implikationen digitaler Technologien und Techniken. So müssen Fragen wie die von Nutzung versus Besitz, die des Eigentums an Daten, die von Persönlichkeitsrechten, die der Mündigkeit der verschiedenen Akteur*innen, die der informationellen Selbstbestimmung sowie die eines zivilen Ungehorsams gegenüber immer autonomer werdenden technischen Systemen und die der gesellschaftlichen Teilhabe gerade auch aus einer ethischen Perspektive analysiert werden.
Interaktionsperspektive
Im Fokus der Interaktionsperspektive stehen die Menschen, zentral sind die Fragen, wie sie vor dem Hintergrund der technologisch-medialen und gesellschaftlich-kulturellen Voraussetzungen welche digitalen Medien und Systeme warum und wozu nutzen, inwiefern sie am digitalen Wandel teilhaben und ihn mitgestalten (können) sowie wie sie sich als handlungsfähige Subjekte konstituieren (vgl. auch Medienaneignung). Dabei sind die Aspekte Nutzung, Handlung und Subjektivierung zentral.
Unter Nutzung ist die funktionale Anwendung von digitalen Medien und Systemen beispielsweise für rezeptive, gestalterische, kommunikative, problemlösende und organisatorische Zwecke gefasst. Diese Nutzungsoptionen, die von Einzelnen oder Gruppen von Personen wahrgenommen, selektiert und ggf. auch verändert werden, beziehen sich auf digitale Artefakte und die von ihnen eröffneten Möglichkeiten.
Im Rahmen von Handlungen werden diese Nutzungsoptionen in unterschiedliche soziale Praktiken integriert. Dabei werden kulturell tradierte Interaktions- und Kommunikationsformen sowohl aufgenommen als auch transformiert. Eine bewusste Aneignung dieser Nutzungsoptionen setzt stets bestimmte Handlungsmotive wie auch die Reflexion und Analyse der technologischen und medialen Funktionsprinzipien und Potentiale sowie rahmender soziokultureller Praktiken voraus – dies gilt gleichermaßen für den Einsatz von Bildungsmedien, Lehr- und Lerntechniken. Auf dieser Grundlage lassen sich die Gestaltungspotentiale digitaler Artefakte realisieren. Derartige Handlungsoptionen bilden auch den Horizont für die individuelle Kompetenzentwicklung.
Mit Subjektivierung ist schließlich darauf verwiesen, dass im Zusammenwirken von digitalen Medien und Systemen sowie menschlichem Handeln auch die Identitätsbildung und -entwicklung angelegt, ermöglicht oder auch behindert werden können. Dies betrifft mehrere Ebenen: Konkret sind damit erstens Formen der Selbstthematisierung gemeint, die in und über digitale Medien und Systeme ermöglicht und nahegelegt werden. So sind beispielsweise in Interfaces von sozialen Netzwerken bestimmte Handlungsaufforderungen eingeschrieben, wie man sich in und über diese Dienste zeigen und darin agieren soll und sich zugleich damit selbst konstituiert. Aus der Interaktionsperspektive betrachtet, interessiert, welches Menschenbild durch diese Formen möglicher Selbstthematisierung konstituiert wird. Zweitens wird abstrakter auch die Frage gestellt, wie und vor dem Hintergrund welcher kulturellen Einschreibungen Subjekte in den jeweiligen Medien repräsentiert und adressiert sind, beispielsweise in Form von Interessenprofilen in Empfehlungs- und Filtersystemen oder auf Ebene von Interfaces und Interaktionsmöglichkeiten. Drittens sind beispielsweise im Angesicht von Data Analytics und Künstlicher Intelligenz traditionell auf Subjekte bezogene Konzepte wie Autonomie und Authentizität auch auf technologisch-medialer Ebene in den Blick zu nehmen.
Reflektiert werden soll aus der Interaktionsperspektive, wie und warum digitale Medien und Systeme als Werkzeuge jeweils für konkrete Vorhaben ausgewählt und genutzt werden. Dies erfordert eine Orientierung hinsichtlich der vorhandenen Möglichkeiten und Funktionsumfänge gängiger Werkzeuge in der jeweiligen Anwendungsdomäne sowie deren sichere Handhabung, aber auch die Kenntnis ökonomischer, gesellschaftlicher und politischer Interessen, welche Anbietende von digitalen Werkzeugen vertreten. Mit dem eigenen Handeln stellt sich so auch immer die Frage, welche anderen Handlungsoptionen individuell und sozial wünschenswert und realisierbar wären. Gleichzeitig ist aus dieser Perspektive immer auch zu reflektieren, welche Subjektpositionen technologisch-medial und kulturell angelegt sind, wie Subjekte sich in diesem Rahmen konstituieren und inwiefern sich Subjektivität angesichts digitaler autonomer Systeme transformiert.
Anschlüsse
Die drei Seiten des Frankfurt-Dreiecks beschreiben jeweils unterschiedliche Perspektiven für die Analyse, Reflexion und Gestaltung von Artefakten und Phänomenen einer durch digitale Medien und Systeme geprägten Welt. Dies schließt jeweils unterschiedliche Zugänge zur Erklärung der digitalen Artefakte und damit verbundener Phänomene ein. Das (theoretisch-konzeptionelle) Modell bietet eine begriffliche und strukturelle Grundlage, um an die Diskurse der Disziplinen Informatik, Informatikdidaktik, Medienpädagogik und Medienwissenschaft anschließen zu können, in einen produktiven interdisziplinären Austausch einzutreten und eigene anschlussfähige Theoriebildung zur Ausdifferenzierung und Konkretisierung voranzutreiben.
Für Bildungskonzepte, die digitale Medien und Systeme einschließlich der damit verbundenen Phänomene und ihrer Grundlagen adressieren und zur Teilhabe an der durch sie geprägten Welt befähigen sollen, ergibt sich aus dem Frankfurt-Dreieck die Maßgabe, dass sowohl die technologischen und medialen Strukturen und Funktionen, als auch die gesellschaftlich-kulturellen Wechselwirkungen sowie die Nutzungs-, Handlung- und Subjektivierungsweisen in Interaktionen mit digitalen Medien und Systemen einzubeziehen sind. Das übergeordnete Ziel muss dabei sein, digitale Artefakte und mit ihnen verbundene Phänomene im Zusammenspiel dieser drei Perspektiven analysieren, reflektieren, gestalten und damit erklären und beurteilen zu können.
Vor dem Hintergrund derartiger Bildungskonzepte gilt es im Austausch mit Bildungspolitik und -praxis konkrete Kompetenzanforderungen weiterzuentwickeln und im Zusammenwirken informatischer, informatikdidaktischer, medienwissenschaftlicher und medienpädagogischer Expertise (fach-)didaktische Szenarien und Lernmaterialien zu entwickeln, die den Auf- und Ausbau dieser Kompetenzen in Bildungseinrichtungen ermöglichen. Dieses Rahmenmodell kann dabei für alle Praxis- und Handlungsfelder in Bildungskontexten und pädagogischer Arbeit adaptiert werden: für die allgemeinbildende Schule, für die Hochschule, die Lehrer*innenbildung wie auch für außerschulische Bildungskontexte, wie die Kinder- und Jugendarbeit und Erwachsenenbildung. Perspektivisch ergibt sich so ein umfassender, wissenschaftlich fundierter und interdisziplinär getragener Katalog von Zielstellungen und Maßnahmen für Bildungskonzepte in einer durch digitale Medien und Systeme geprägten Welt.
Mitwirkende
Prof. Dr. Torsten Brinda (U Duisburg-Essen, D)
Dr. Niels Brüggen (JFF, München, D)
Prof. Dr. Ira Diethelm (U Oldenburg, D)
Prof. Dr. Thomas Knaus (PH Ludwigsburg, D | Frankfurt UAS, D)
Prof. Dr. Sven Kommer (RWTH, Aachen, D | KBoM)
Christine Kopf (DFF, Frankfurt, D)
Ass.-Prof. Dr. Petra Missomelius (U Innsbruck, A | KBoM)
Prof. Dr. Rainer Leschke (U Siegen, D)
Prof. Friederike Tilemann (PH Zürich, CH)
Dr. Andreas Weich (HBK Braunschweig, D | TU Braunschweig, D)
Die Arbeit am Frankfurt-Dreieck in Bezug zu anderen strategischen Aktivitäten in der Sektion Medienpädagogik
Zum Selbstverständnis der Arbeit in der Initiative KBoM – Keine Bildung ohne Medien!
In der Initiative „Keine Bildung ohne Medien!“ haben sich medienpädagogische Verbände und Institutionen zusammengeschlossen, um medienpädagogische Positionen in Richtung Fachpolitik, Fachöffentlichkeit und allgemeine Öffentlichkeit zu diskutieren, ihnen größere Sichtbarkeit zu geben und sie in einem gemeinsamen, breit abgestützten Engagement in die relevanten Diskurse einzubringen.
In der Lenkungsgruppe werden die Aktivitäten koordiniert. Diese setzt sich zusammen aus je einer/einem Vertreter*in der Verbände und Institutionen sowie weiteren gewählten Vertreter*innen aus dem Plenum.
Zur Weiterentwicklung des Dagstuhl-Dreiecks aus dem Jahr 2016 wurde im Sommer 2017 sektions- und fachgruppenweit zu einem Workshop nach Frankfurt am Main eingeladen. Ziel der intensiven und interdisziplinären Arbeitstagung war nicht zuletzt die Diskussion und Einarbeitung der vielfältigen, nach der Erstveröffentlichung eingegangenen weiterführenden Anmerkungen und Kritiken. Aus diesem Workshop heraus konstituierte sich die interdisziplinäre Schreibgruppe, die die bisherige Diskussion im Rahmen weiterer Treffen in Frankfurt sowie ergänzenden Telefonkonferenzen in ein theoretisches Modell überführte, das mit Frankfurt-Dreieck benannt wurde.
Zum Verhältnis des Orientierungsrahmens der Sektion Medienpädagogik der DGfE zum Frankfurt-Dreieck
Der Orientierungsrahmen für die Entwicklung von Curricula für medienpädagogische Studiengänge und Studienanteile (https://doi.org/10.21240/mpaed/00/2017.12.04.X)
- gibt Hochschulen Hinweise,
- wie neu einzuführende Studiengänge mit einer medienpädagogischen Thematik konstruiert werden sollten,
- welche Ansprüche bei der Akkreditierung vorhandener Studiengänge mit medienpädagogischen Themen gestellt werden müssen und
- wie die Etablierung neuer Professuren oder die Einrichtung von Arbeitsgruppen für Medienpädagogik begründet werden sollte;
- dient aber auch der Reflexion der „disziplinären Identität“
- und verdeutlicht die Anschlussfähigkeit der Medienpädagogik an die Erziehungswissenschaft, Teildisziplinen der Erziehungswissenschaft sowie andere Disziplinen.
Der kompetenzorientierte Rahmen ist als allgemeine Grundlage für die medienpädagogische Ausbildung an Universitäten und Hochschulen zu sehen. Er ist nicht mit dem Anspruch verknüpft, dass jeweils alle Aufgabenfelder sowie Wissens-, Könnens- und Reflexionsbereiche zur Geltung kommen.
Das interdisziplinäre Frankfurt-Dreieck zur Bildung in der digitalen Welt zielt darauf, einen überfachlichen Orientierungs- und Reflexionsrahmen für Bildungsprozesse im durch Mediatisierung, Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung geprägten digitalen Wandel bereitzustellen und möglichst alle relevanten Perspektiven daran beteiligter Disziplinen einzubeziehen. Entsprechend finden sich Überschneidungen, aber mitunter auch deutliche Unterschiede zum oben genannten Orientierungsrahmen. Das Frankfurt-Dreieck zielt nicht spezifisch auf die medienpädagogische Ausbildung an Hochschulen, sondern kann (und soll) im weiteren Diskurs für unterschiedliche Bildungssettings (Schulbildung, außerschulische Bildung, Erwachsenenbildung et cetera) adaptiert werden.
Im direkten Bezug zum Orientierungsrahmen der DGfE stellt das Frankfurt Dreieck einen-theoretisch- konzeptionellen Reflexionsrahmen bereit, um in den Bereichen des Wissens, Könnens und der Reflexion in den Dimensionen „Rahmende Strukturen medienpädagogischen Handelns“ und „Medienangebote und Medienwelten“ zu betrachten. Unter anderem zeigt sich diese Kongruenz an der in beiden Konzepten verankerten Begriffstrias analysieren, reflektieren und (mit)gestalten.
Als Hilfe zur Orientierung, Strukturierung und Ordnung von Phänomenen des digitalen Wandels weist es unter anderem aus, wie medienpädagogisch relevante Diskurse und Befunde anderer Disziplinen in die Reflexion von Bildungsprozessen (und ggf. auch Konzeption von Bildungsangeboten) einbezogen werden können. Die weiteren für die medienpädagogische Hochschulausbildung benannten Bereiche bleiben von dem Modell unberührt.
Zentrale Diskurslinien der interdisziplinären Zusammenarbeit
Die von einem starken gemeinsamen Willen zur interdisziplinären Verständigung geführten elaborierten und intensiven Diskussionen um nahezu alle zentralen Begriffe machten immer wieder deutlich, wie notwendig – aber eben auch aufwändig – derartige Verständigungsprozesse sind. Konsens konnte (und kann) dabei nur durch wertschätzende Einbeziehung aller beteiligten Positionen hergestellt werden. Folgende aus der Medienpädagogik eingebrachten zentralen Begriffe wurden unter anderem im Rahmen der Erarbeitung kontrovers diskutiert[1]:
- Digitale Medien und Systeme (aus Sicht der Medienpädagogik: Ausweitung über einen medien- und kommunikationswissenschaftlich begründeten Medienbegriff hinaus);
- Subjekt – Subjektivierung – Individuum (Dabei wurde von Seiten der Medienwissenschaft der Einwand vorgebracht, dass der Subjektbegriff zu stark auf eine Überhöhung der individuellen Möglichkeiten verweise und deshalb nicht konsensfähig sei. Deshalb „nur“ Subjektivierung);
- Medienaneignung (wurde nach Einwänden der Medienwissenschaft nur in einer Klammer aufgegriffen).
Zentrales Anliegen war die Trias Analyse, Reflexion und Gestaltung und die Handlungsorientierung im Kontrast zu einer Anwendungsorientierung einzubringen. Beides wurde erreicht.
Aus der Medienpädagogik haben an der Autor*innengruppe mitgewirkt:
- Niels Brüggen (JFF, München, D)
- Dr. Thomas Knaus (PH Ludwigsburg, D | Frankfurt UAS, D)
- Dr. Sven Kommer (RWTH, Aachen, D | KBoM)
- Friederike Tilemann (PH Zürich, CH)
[1] Alle Diskussionsstränge können an dieser Stelle aufgrund ihres Umfangs leider nicht dargestellt werden.